Warum Menschen am 15. Oktober
2011 weltweit auf die Straße gingen
“Man muss kämpfen, weil
es Menschen gibt, die leiden und die auf uns zählen“, sagte neulich
der algerische Schriftsteller Boualem Sansal, vermutlich in Frankfurt,
wo er soeben den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhielt. Ja, es
geht um friedlichen Kampf, für Rechte, die den sogenannten einfachen
Menschen, den normalen Bürgern, zustehen und die ihnen vorenthalten
werden. Zuallererst um das Recht auf faktische demokratische Teilhabe (statt
einer fiktiven). Und gleichbedeutend damit, um das Recht auf ein Leben
in Würde. Was auch bedeutet, dass es allen möglich sein sollte,
zu leben, ohne einem elementaren Mangel ausgesetzt zu sein. Also einer
Armut, die vermeidbar ist, die nicht beruht auf einer Knappheit der Dinge,
sondern auf einer irrationalen Allokation.
Was Boualem Sansals Einsatz für
demokratische Rechte angeht, so kann man davon ausgehen, dass die deutschen
Preisverleiher und mehr noch, die meinungspolitisch vorherrschenden Medien
in Deutschland den nordafrikanischen Kontext im Auge haben: jenen Kontext,
der heute geprägt ist von den Kämpfen der Bevölkerung in
Tunesien und in Ägypten für eine Demokratie, deren Inhalt sie
noch definieren müssen. Es geschieht noch zu selten, in den Medien,
dass man die Frage nach den Defiziten der eigenen Demokratie stellt. Wie
sagte doch Boualem Sansal? Der Mensch hat Schwierigkeiten mit der Wahrheit.
Das gilt übrigens auch für
jene vielen, die von den Medien informiert zu werden glauben, in gewissem
Maße. In Deutschland ist der Anteil jener normalen Durchschnittsbürger
(falls es denn anders als statistisch einen solchen Typus gibt) beträchtlich,
der bei Umfragen wie bei Wahlen immer wieder einer der beiden großen
Parteien seine Stimme gibt. In den USA ist es übrigens genauso. Der
besagte statistische Bevölkerungs-Ausschnítt repräsentiert
mehrheitlich die sogenannte „Mitte“ – oder die „schweigende Mehrheit“.
So jedenfalls sehen das offenbar die Meinungsmacher in den Medien, auch
die in diesen Medien immer wieder zu Wort kommenden, etablierten Politiker.
Wie soll man von dem sprichwörtlichen Angehörigen der Mitte (oder
gar einer „middle class“, wie es in den USA gern dargestellt wird) aber
annehmen, und mithin diesem fiktiv angenommenen „Durchschnittsbürger“
glauben, dass er genau der ist, der „Politikern nicht vertraut“? Dass er,
wie alle repräsentativen Umfragen, in den USA wie in Deutschland,
zeigen, der ist, der die politischen Eliten für „Selbstbediener“ hält,
die mit den Repräsentanten und den Eigentümern der Konzerne
unter einem Hut stecken? Und dass er derjenige ist, der immer wieder angesichts
der Entscheidungen einer politischen Klasse, von der er sich im konkreten
Fall nicht repräsentiert, sondern über den Löffel barbiert
fühlt, vor sich hinmurmelt, „da kann man nichts machen; wir können
nichts machen; die machen ja doch, was sie wollen“?
Die Diskrepanz zwischen affirmativem,
das heißt, die Eliten bestätigendem Verhalten (bei Wahlen) und
der Enttäuschung über sie, über die Parteien, ja, auch über
die Demokratie, „so, wie sie funktioniert“, ist groß. Und der Abgrund,
der sich da auftut, scheint derzeit – in vielleicht der schärfsten
Krise seit den 1930er Jahren – sich immer weiter zu öffnen. Warum
aber klappt die Verdrängung der Tatsache dennoch bei so vielen, dass
etwas Grundsätzliches nicht stimmt? Warum funktioniert jenes widersprüchliche,
Misstrauen und Affirmation unter einen „Hut“ bringende Verhaltensschema?
Ist es die Sehnsucht nach Sicherheit, einer längst nicht mehr gegebenen,
übrigens, die dahinter steht? Ist es vielleicht die Hoffnung auf den
Heilsbringer, das Setzen auf den Papa, den starken Mann, als Folge eines
beschädigten Selbstvertrauens? Ist es Müdigkeit, Überlastung?
Die Vereinzelung, die Atomisierung der Gesellschaft, das fehlende Vertrauen
in Kollegen, Nachbarn, Gleiche; geschürt, bestätigt, vertieft
von den Erfahrungen der Konkurrenz, von der Verschlechterung des Betriebsklimas
am Arbeitsplatz, wo plötzlich jeder im stillen zu denken scheint:
„Rette sich, wer kann – den eigenen Job“? Trägt vieles dazu
bei, dass sie immer noch virulent ist, in nicht wenigen: diese Erwartung,
dass „Andere“ (zumeist: die Politiker) die Entscheidungen treffen werden,
welche dann vielleicht alles „bessern“ könnten? Sodass man der „ Politik“,
der politischen Klasse, zwar misstraut, aber sie dennoch – sofern man noch
wählen geht – immer wieder ängstlich, skeptisch, auf Enttäuschungen
gefasst, zum Strohhalm der kleinen Hoffnung macht. Einem Strohhalm,
nach dem man, wie ein Junkie, bei jeder Wahl greift, wünschend, auch
als Wechselwähler, es möge dieses Mal etwas bringen. Ja, man
hofft, ohne mehr dafür zu tun als noch wählen zu gehen, auf eine
Verbesserung der eigenen Lage. Oder wenigstens, als hoffender Pessimist,
auf keine weitere, noch kommende Verschlechterung. Die dann – natürlich,
möchte man fast sagen – aber kommt, weil regierende Politiker von
sich sagen werden, dass sie doch keine Populisten sind. Dass sie „natürlich“,
weil es „alternativlos“ ist, der Masse der Bevölkerung bittere Medizin
verordnen müssen. Ihr ein Abspecken zumuten, also auf dem Immer-Enger-Schnallen
des Gürtels der „Anderen“ (nämlich „Unteren“) bestehen müssen.
Warum? „Damit die Wirtschaft sich erholt.“ „Damit es sich wieder lohnt,
zu investieren“ Damit die Dynamik der Umverteilung von unten nach oben
sich ungebrochen fortsetzt, sofern es keinen „Kladderadatsch“ gibt, der
alle vielleicht in die Tiefe reißt.
Boualem Sansal hat schon recht.
Autoren mögen Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit haben. Politiker
haben Schwierigkeiten, sie auszusprechen. Es ist nicht opportun. Es ist
taktisch unklug. Es enthüllt nur fragwürdige Bindungen in ihrer
Fragwürdigkeit, partikuläre Interessen als das was sie sind,
wo man es als Teil der politischen Klasse darauf anlegen muss, das Gemeinwohl
zu beschwören, das man so selten im Auge hat. Was die Masse der Bevölkerung
angeht, so scheint ein erheblicher Teil Schwierigkeiten damit zu haben,
der Wahrheit ins Auge zu sehen. Sie selbst zu bedenken, selbst zu entdecken,
was ist und was sein könnte und vielleicht sein sollte. All das Fehlende,
das Verweigerte, und das Unrechte beim Namen zu nennen. Wenn es ein
Autor, alle Risiken auf sich nehmend, versucht, tut er es dann nicht, um
ein Beispiel zu geben: ein anderes als es die Konformisten und Opportunisten
uns geben? Ein Beispiel, das darin besteht, furchtlos die Nacktheit des
Kaisers, der nackt ist, zu malen – was doch heißt, das Skandalöse
zu zeigen und es zu benennen?
Die „politischen Eliten“ hierzulande
und ihre vergleichsweise gut honorierten Zuarbeiter und willigen Helfer
haben in diesem Jahr, 2011, zögerlich zwar – und wohl nur verbal,
so vermuten manche – sich endlich unter dem Druck der ohnehin sich vollziehenden
Veränderung entschlossen, die Skandale und die Defizite der ägyptischen
Militärherrschaft unter dem vor kurzem noch hofierten Präsidenten
Mubarak als solche anzuerkennen. Während sie zuvor doch viele Jahre
den falschen Schein der ägyptischen „Demokratie“, der Wahlen, der
zugelassenen Parteien beglaubigten! Ob die in Bewegung geratenden Verhältnisse
in Europa und Nordamerika sie wohl auch dahin bringen werden, die gewiss
anders gearteten, in manchem aber mit der ägyptischen Situation vergleichbaren
demokratischen Defizite in den eigenen Ländern anzuerkennen?
Sie werden es – so steht zu befürchten – vermutlich nicht tun, sondern
sich mit Händen und Füßen dagegen wehren. Denn es geht
um ihre Macht. Eine Macht, die ihnen formal nur vom „Volk“ auf Zeit geliehen
ist, mit der Maßgabe, den Interessen und Bedürfnissen der Masse
der Menschen primär (!) verpflichtet zu sein und zu bleiben –
die sie aber realiter ausüben „nach Gutsherrenart“.
Die Krise, die eine multiple
ist, deren ökologische Dimension in Gestalt des Klimawandels, aber
auch der Problematik der Umweltverseuchung durch Pestizide und industrielle
sowie der Motorisierung geschuldete Dimensionen, um nur diese Aspekte zu
nennen (es gibt weit mehr), die Mehrzahl der Menschen im Lande beunruhigt,
greift andererseits am direktesten, fühlbarsten angesichts ihrer gesellschaftlichen,
politökonomischen Dimensionen in das Leben der Vielen ein. Wie in
Nordamerika hat sich auch in Europa, auch in Deutschland, der Druck, der
auf den Einzelnen lastet, erhöht. Die Zahl der psychisch Kranken,
die an Angststörungen oder Depressionen leiden, ist enorm gestiegen.
Armut, ja Verelendung – in den 1960er Jahren von den meisten Soziologen
als eine in „den Industrieländern“ des Westens längst nicht mehr
gegebene Angelegenheit der Vergangenheit betrachtet – haben ein neues,
seit langem so nicht gekanntes Ausmaß angenommen. Die Schere zwischen
arm und reich hat sich in den letzten 20 Jahren auch in Deutschland eklatant
geöffnet. Es handelt sich offensichtlich um eine weltweite Tendenz.
Zwar wächst in den sogenannten Schwellenländern eine neue, ein
wenig wohlhabende „mittlere Klasse“ heran, die zwischen den alten, traditionell
Macht und Reichtum monopolisierenden „Eliten“ und der überwältigenden
Masse der Armen aufblüht und um ihren Anteil an der politischen Macht
und um stärkeren gesellschaftlichen Einfluss ringt. Aber alle
drei Minuten verhungert – so sagt es eine monströse Statistik – auf
unsrem Planeten ein Mensch. In den „alten Industrieländern“ gerät
sogar jenes Segment der Bevölkerung, dass sich – ob auf eigene Rechnung
arbeitend oder, was weit häufiger der Fall ist, für Gehalt oder
einst guten Lohn – einer „Mittelklasse“ zugerechnet sah und dieser auch
selbst zurechnete, unter Druck. Und es erfährt Verunsicherung, Zukunftsängste,
reale Unsicherheit der eigenen Stellung, nicht selten auch einen Einkommensverlust.
Der Schwerpunkt der Akkumulation des gesellschaftlichen „Reichtums“ (ob
angelegt in Form von Aktien, Staatspapieren, Immobilienbesitz oder thesauriert
in dieser oder jener Form) hat sich schon seit längerem „ganz nach
oben“ verschoben, zum obersten einen Prozent der Bevölkerung, wenn
nicht zum Bruchteil eines Prozents. Die Beeinträchtigung der Lage
der breiten Mehrheit in den besagten „alten Industrieländern“ sowie
an deren Peripherie – etwa in Europa – geht aber weit über das hinaus,
was die sogenannte „Mittelklasse“ in den letzten Jahren an Verschlechterung
erlebt.
Portugal ist ein Niedriglohnland,
in dem die Bevölkerungsmehrheit – wie in Griechenland – einer bittere
Armut in Elend verwandelnden Politik ausgesetzt ist, während das Top-Management
mit die höchsten Gehälter und Boni in Europa einstreicht. In
Polen leben heute drei Fünftel der Bevölkerung mittlerweile an
oder unter der Armutsgrenze. Von Boom-Phasen der Wirtschaft profitieren
einige Geschäftsleute sowie die crème de la crème der
politischen Klasse. In Nordostpolen kommen viele Kinder, ohne ein Frühstück
gehabt zu haben, in die Schule und bringen vom Schulfrühstück
etwas nach Hause mit, damit die Geschwister essen können. Kranke ohne
Geld und Versicherungsschutz müssen erleben, dass sie in Warschauer
Krankenhäusern nicht behandelt werden. Die Zahl der Menschen in der
Stadt, die nach Verlust der Arbeit obdachlos geworden sind, ist erheblich.
Aber das Problem besteht ja ganz
ähnlich in London oder in Madrid, wo der konservative Bürgermeister
sich für ein neues, an das Franco-Gesetz gegen „Herumstrolcher und
Hausierer“ erinnerndes Gesetz stark macht, das erlauben würde, die
auf der Straße Schlafenden – viele davon Arbeiter, die ihre Stelle
verloren – aus der Stadt zu vertreiben. In San Jose, Kalifornien, wird
genau das schon praktiziert. Und im Großraum Los Angeles gibt es
mindestens eine Gemeinde, die von unter Brücken Schlafenden ein Bußgeld
verlangt, das den Obdachlosen erlauben würde, für den gleichen
Preis in einem erstklassigen Hotel zu übernachten.
Die sogenannte Dritte Welt hat
die Erste eingeholt. Menschen schlafen nicht mehr nur nachts in Sao Paulo
auf den Strassen. Es geht manchmal schnell mit dem Absturz in die
extreme Armut und die Obdachlosigkeit. Aber die Wohlhabenden, die Reichen
und Superreichen möchten die Armut nicht sehen. Sie fühlen sich
belästigt von Bettlern. Der Anblick der Armen erscheint ihnen nicht
als besonders ästhetisch. Auch sie möchten verdrängen, möchten
nicht sehen, dass es solche Armut ist, die ihre wirtschaftliche Aktivität
produziert. Vielleicht haben sie Angst vor einer Ansteckung, einer metaphorischen
oder einer realen. Unter den Armen, die im Winter draußen schlafen
und die sich keine Behandlung mehr leisten können, nimmt weltweit
eine nicht oder kaum noch kurierbare, gegen die bekannten Antibiotika resistente
Form der Tuberkulose zu. Es ist wahr, mit dem immer mehr Menschen – auch
in Europa und Nordamerika – heimsuchenden Hunger hat auch die Kälte
Einzug gehalten: die soziale der Behörden, der Bosse, der Politiker
und die nicht-metaphorische, die in Celsius und Fahrenheit messbare. Die
Armen – einst von minderwertiger, billiger fast food zu dick geworden,
sehen zunehmend hager und ausgezehrt aus. Die Zahl derer, denen sichtbar
Zähne fehlen, die in verschlissener Kleidung und kaputten Schuhen
herumlaufen, steigt. Es trifft die wohnungslos Gewordenen, die Arbeitslosen
und Millionen, die für einen Hungerlohn arbeiten „dürfen“. Man
kann in Deutschland bei den hiesigen Preisen und Mieten mit sieben Euro
fünfzig brutto, die man als Leiharbeiter verdient, seine Familie nicht
durchbringen. Viele, die ein Zuhause haben, heizen nicht mehr, selbst im
richtigen Winter. Man wird nicht alt werden, so. Die Obdachlosen wissen
das schon längst.
In den USA – so wurde Anfang
2007 in der New York Times berichtet – verfügte im Jahr vor Ausbruch
der Finanzkrise und der davon ausgelösten realwirtschaftlichen Krise
das oberste 1 Prozent der Amerikaner in der Summe über ein Haushaltseinkommen,
das in etwa dem Gesamteinkommen der unteren 50 Prozent der US-Haushalte
entsprach, d.h. nur geringfügig darunter lag. Etwa 150 Millionen Menschen
mussten also ungefähr mit der Einkommenssumme über die Runden
kommen, die – auf der anderen Seite der Einkommens-Skala – rund 300.000
Menschen zur Verfügung stand. Diese Einkommens-Ungleichheit besagt
aber weit weniger über das Ausmaß der tatsächlichen Ungleichheit
als die Unterschiede bezüglich des Eigentums, besonders des direkt
oder indirekt (in Form von Aktien usw.) gehaltenen Besitzes von Banken
und anderen Wirtschaftsunternehmen.
Was die Einkommens-Statistik
aber sehr wohl enthüllte, war das Auseinanderdriften von Arm und Reich.
Das oberste eine Prozent in den USA bezog im Jahr 2006 im Durchschnitt
ein Einkommen, das 440 mal so hoch war wie das Durchschnittseinkommen der
unteren 50 Prozent der Bevölkerung. 1980 war das Durchschnittseinkommen
nur ca. 250 mal höher gewesen; der Einkommensabstand hatte sich –
wohl nicht nur wegen des Anstiegs der Rendite von Investitionen im Finanz-
und Immobilienbereich, sondern auch wegen des Lohnabbaus bei der Masse
der Menschen mit vergleichsweise gering eingestuften Qualifikationen –
in den letzten Jahrzehnten in etwa verdoppelt.
Wir machen uns etwas vor, wenn
wir angesichts der starken Zunahme von Leiharbeit, von Teilzeitarbeit und
von relativ schlecht entlohnter, oft befristeter Vollzeitarbeit annehmen,
die Schere zwischen den wenigen Beziehern sehr hoher Einkommen und den
unteren 50 Prozent der Gesellschaft habe sich in Deutschland nicht drastisch
geöffnet, auch wenn die Entwicklung in den USA um einiges dramatischer
sein mag.
Die wirtschaftliche Entwicklung
wird von der großen Mehrheit der Bevölkerung als besorgniserregend,
wenn nicht angstmachend empfunden. Der zunehmende Druck auf die Masse der
Beschäftigten – übrigens mit Einschluss der mittleren (middle
management) Positionen, die den Druck nur weitergeben – wird existentiell
erlebt. Gewerkschaftsvertreter wiesen Politik und Unternehmer übrigens
vor kurzem darauf hin, dass dieser Druck auf Sicht krank macht. Ein Faktum,
auf das von ärztlicher Seite schon länger hingewiesen wurde,
dass aber sozialpsychologisch betrachtet voraussagbar war.
Was die Menschen im Lande in
ihrer Mehrheit – obwohl sie ganz offensichtlich wissen, dass es Ungleichheit
gibt – bislang nicht oder nur vage zur Kenntnis nehmen, das ist der Grad
der Ungleichheit und das skandalöse Ausmaß ihrer Zunahme –
vor allem in den letzten beiden Jahrzehnten. Man ahnt das vielleicht. Aber
man erfährt wenig Präzises – auch weil die Reichtumsforschung
von der Politik und Wirtschaft letztlich nicht gewollt und deshalb vernachlässigt
und unterfinanziert ist.
Der Wahrheit ins Auge zu sehen
würde bedeuten, dass die Mehrheit diesen Skandal bewusst registriert,
dass sie ihn benennt, dass sie Veränderung fordert und aktiv für
Veränderung eintritt.
Davon ist sowohl in den USA wie
in Deutschland noch viel zu wenig zu spüren. Gewiss, es gibt einige
aktive Gewerkschafter, die sich engagieren, selbst wenn sie noch in der
Minderzahl sind. Viele „Bosse“ von Gewerkschaften neigen ohnehin dazu,
nur Sonntagsreden zu halten. Und die Lohnabhängigen wissen das: mehr
oder weniger deutlich sprechen es viele auch aus. Aber – das ist das Fatale
– eben diese Desillusionierung bezüglich der eigenen Organisationen
und ihrer „leader“ lähmt auch die meisten Einzelnen an der Basis.
Sie hören, dass Betriebsräte hier und dort eingekauft werden,
und auch das trägt dazu bei, dass die Menschen sich „in der Defensive“
sehen.
Heute ist es in Deutschland noch
eine Minderheit von Wachen, oft auch von Empörten, die gegen eine
Politik, welche die Folgen der Krise auf die Mehrheit abläd und die
Reichen ebenso wie die großen Unternehmen schont, auf die Straße
gehen. Diese Menschen, die teils in der Krise aktiv wurden, teils es schon
lange sind, erscheinen manchen von uns wie das Salz der Erde, wie die Hefe,
die aufgeht. In mancher Hinsicht sind sie den Propheten und Philosophen,
den Autoren, die wie Boualem Sansal die Wahrheit suchen und auch für
die Vielen sichtbar machen wollen, vergleichbar. Kein Zweifel, es gibt
Alte darunter – sie haben vielleicht das Gefühl, sie hätten nicht
mehr so viel zu verlieren. Aber dennoch: in Stuttgart verlor einer von
ihnen, ein friedlicher Mittsechzigjähriger, am Rande einer Demonstration
durch Polizeigewalt sein Augenlicht. Was die jungen Leute angeht, so ist
es der Mut der Jugend, der sie beflügelt. Welche „Karrieren“, welche
beruflichen Aussichten eröffnen sich ihnen denn, in der Krise,
der Serie der Krisen, die sie erlebten? Aber was wird es für sie,
in Zukunft, bedeuten, wenn sie – etwa auf der Brooklyn Brücke in New
York – von der Polizei trickreich vom Fußgängerüberweg
abgedrängt und auf die Fahrbahn gelenkt werden, damit man sie verhaften,
damit man an rund 700 von ihnen ein Exempel statuieren kann? Die Verhaftung,
das In-Polizeigewahrsam-Genommen-Werden, bedeutet in der Regel, dass man
fotografiert wird (mug shot, nennt man es in den USA). Und dass die
Fingerabdrücke genommen werden. Der Staat vergisst nichts. Gibt er
auch Informationen an Universitäten und Konzerne weiter? Gut möglich.
Das Leben wird dadurch, dass man sich engagiert, nicht leichter. Die sich
wehren gegen das Unrecht, zahlen einen Preis. Viele von ihnen wissen das.
Sie sehen der Wahrheit der Verhältnisse ins Auge; sie haben irgendwann
keine Illusionen mehr, dass die Macht es ernst meint mit dem Demonstrationsrecht,
mit der Meinungsfreiheit und noch einigem mehr. Es sind widerwillig zugestandene
Rechte; sie werden beschnitten, sie werden sabotiert. Die Menschen, die
in den USA in der Friedensbewegung, in der Bürgerrechtsbewegung aktiv
waren, wissen das. Und viele engagierte Gewerkschafter mussten es ebenfalls
erfahren. Und alle oder doch viele wissen oder ahnen, dass die Staatsmacht
auch zu schmutzigen Tricks greift. Nicht nur „Tricky Dick“ Nixon. Alle
– mehr oder weniger, die die Staatsräson und die Interessen der wirtschaftlich
Mächtigen vor das demokratische Fair play stellen. Es zwingt die friedlich
für ihre Rechte – und die verweigerten Rechte der Mehrheit, die sich
noch nicht bewegt – Eintretenden, einen kühlen Kopf zu behalten in
den Auseinandersetzungen, zu denen es immer wieder kommt, wenn Menschen
demonstrieren: ob in Selma, Alabama, in New York, oder in Barcelona, Madrid,
Frankfurt und Rom.
Übrigens, an den dezentralen
Demonstrationen gegen die Macht der Banken und für mehr Demokratie
nahmen in Deutschland am 15. Oktober etwa 40.000 Menschen teil – eine Zahl,
welche die Polizei, wie sie das bei solcher Gelegenheit immer tut –
natürlich herunterredet. Aber seht nach Italien, seht nach Griechenland!
In Rom, heißt es, gingen 200.000 Menschen auf die Straße. Fast
alle demonstrierten friedlich. Nur einige angesichts der elenden Situation
vieler junger Menschen wirklich wütende Jugendliche, vielleicht
(wenn nicht sogar ganz sicher) angeheizt von Provokateuren des Staates,
steckten einen Polizeiwagen und womöglich noch einige weitere Autos
in Brand und zertrümmerten – ziemlich sinnlos – die Scheiben von Geschäften.
Man versteht ihren Zorn. Man wundert sich, dass die römische Polizei,
sonst für ihr hartes Vorgehen bekannt, so schwach präsent war,
obwohl man über diesen „schwarzen Block“ im Bilde sein musste. Jetzt
hat die rechte Regierung ihren Vorwand und macht überall im Land Razzien
in den mannigfaltigen Milieus der Linken. Welch „demokratische“ Antwort
– die den Regierenden und den ihnen nahestehenden Medien die Auseinandersetzung
mit 200.000 Kritikern auf den Strassen Roms erspart.
Wiederholen wir also – im Interesse
der Wahrheit – die Botschaft derer, die in Europa, in Nordamerika, aber
auch in vielen Städten der anderen Kontinente am 15. Oktober auf die
Strasse gingen:
Erstens: Die Krise stürzt
Millionen Menschen (weltweit sind es Hunderte von Millionen) ins Elend,
während die Reichen reicher werden, während die spekulierenden
Banken – mit Staatsgeldern gerettet – weitermachen wie bisher,
und die übrigen großen international tätigen Konzerne kaum
noch Steuern zahlen, Arbeitsplätze abbauen, festhalten am Prinzip,
ihre Rendite zu erhöhen um jeden Preis. Diese Entwicklung ist unvereinbar
mit einer demokratischen Gesellschaft und ihren Prinzipien.
Zweitens: die Demokratie wird
auf verschiedene Weisen unterhöhlt, vor allem, weil neue technische
Möglichkeiten der Überwachung aller Bürger bestehen, welche
die Realität des Stasi-Staates mit seinen papiernen Aktenbergen und
seinen IMs als anachronistisches Monstrum von einst erscheinen lassen,
welches längst – der Möglichkeit nach – überholt ist.
Wir fürchten mit gutem Grund: was möglich ist, wird ohne Kontrolle
von unten früher oder später auch gemacht. Es wird jetzt schon
viel zu viel gemacht, das jenseits der Vorgaben der Verfassung liegt.
Drittens: die reale Teilhabe
der Bevölkerungsmehrheit an den sie elementar betreffenden Entscheidungsprozessen
ist weitestgehend fiktiv.
Lokale Demokratie und universale
Demokratie müssen kein Gegensatz sein: sie sind vereinbar. Partizipation
und sozio-ökonomische Rechte: das sind wesentliche Forderungen. Die
„schweigende“, noch stille Mehrheit muss in die Debatte darüber einbezogen
werden.
Es versteht sich von selbst,
dass in einer demokratisierten Gesellschaft die brennenden Fragen der Zeit
– Fragen wie die Verurteilung grosser Teile der jungen Generation, die
keine verlorene Generation sein will, zur Untätigkeit, der Hunger
in der Welt, entwürdigende Armut und der damit oft verbundene faktische
Ausschluss von der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, die sich anbahnende
ökologische und Klimakatastrophe, die riskante Nutzung der Kernkraft
und andere Probleme – anders und entschiedener angegangen werden
können als dies angesichts der heutigen politischen Strukturen und
unter der Bedingung der Vorherrschaft der kleinen Minderheit wirtschaftlich
Mächtiger, die ihre partikulären Interessen mit Hilfe der gegenwärtigen
Institutionen verteidigen, möglich scheint. Ob es gelingt, eine realere
Demokratie zu verwirklichen oder nicht, das wird letztlich auch darüber
entscheiden, ob es der Menschheit gelingt, vielleicht noch reversible Entwicklungen
abzuwenden und Katastrophen historisch ganz neuen Ausmaßes zu vermeiden.
Check...:http://www.democracynow.org/2011/2/17/democracy_uprising_in_the_usa_noam
Check: http://www.democracynow.org/2011/2/17/democracy_uprising_in_the_usa_noam
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with Evicted Families" (IPS, Oct.7, 2011)
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Students in Chile are protesting against
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under Pinochet, and against the underfinanced
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To VIMA
on the general strike (Oct.19-20,2011)
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ELEFTHEROTYPIA
on the general strike
(Oct.19-20,2011)
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Athens (Greece) indymedia
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POESY'S CALL TO JOIN
THE GENERAL STRIKE
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Mavroulis
Argyros on the general strike
(in:
Real.gr, Oct.20, 2011)
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