Post-demokratische Verhältnisse?
Radikaldemokratische Basisdemokratie? Wohin geht die Reise in Europa?
Die Demokratie in Europa
ist ein historisches Resultat langwieriger, schwieriger, manchmal ausgesprochen
verlustreicher, zweifellos auch von Rückschlägen und Niederlagen
begleiteter Kämpfe. Sie ist keineswegs selbstverständlich. Sie
kann verspielt werden. Sie kann liquidiert werden. Sie kann sich langsam
und unmerklich verflüchtigen, gleichsam in Luft auflösen. Was
dann besteht, muß kein Faschismus sein wie seinerzeit in Nazi-Deutschland,
keine Militärdiktatur wie in Chile. Manche sprechen von einer anderen
Gefahr: von post-demokratischen (also „nach-demokratischen“, zwar nicht
diktatorisch, aber auch nicht länger demokratisch zu nennenden) Verhältnissen.
Einer politischen Realität, welche die Bevölkerungen um ihre
Rechte und ihre demokratischen Wirkungsmöglichkeiten bringt.
Wie weit, bis zu welchem Grad
ist eine solche postdemokratische Verhältnisse etablierende Aushöhlung
der Demokratie längst im Gang? Leben wir vielleicht sogar schon in
einer Post-Demokratie?
Nach zwei Weltkriegen war und
ist in den Bevölkerungen Europas der Wunsch nach Überwindung
des Trennenden lebendig. In West- wie in Osteuropa haben die jeweils herrschenden
Machteliten eine Konsolidierung ihres Machtbereichs betrieben. Wie COMECON
und Warschauer Pakt bedeuteten EWG und NATO eine partielle, noch dazu fremdbestimmte
Einheit. Aber es war immerhin ein Schritt der Bevölkerungen verschiedener
Länder aufeinander zu: wenn auch im zu engen Rahmen.
Das Ende des Kalten Krieges erweiterte
den Rahmen, und Menschen in vielen Ländern hofften und hoffen, das
aus dem fremdbestimmten Projekt der Einheit ein selbstbestimmtes, freies,
offenes Projekt wird. Viele, vor allem junge Menschen, aber auch manche
ältere hoffen zugleich, daß Europa keine Festung wird, daß
es sich nicht abschottet, daß es seine Fähigkeiten, zu helfen,
wo Hilfe nötig ist, nicht verkümmern lässt, sondern entwickelt.
Und daß es seine Fähigkeit, auf Eigennutz bedacht zu sein und
so seine noch immer nicht gering zu schätzende Stärke zu missbrauchen,
kritisch in den Blick bekommt, im Interesse einer Wende.
Das Projekt EU war von Anfang
an majorisiert von politischen Kräften, welche die Wirtschaftskraft
ihres Herkunftslands, seinen Vorteil und das hieß vor allem, den
Vorteil seiner Wirtschaftseliten über alles stellten. Ganz im Sinne
der Theorie, daß für die vielen ein wenig abfällt vom gedeckten
Tisch, wenn es den wenigen äußerst gut geht, hat man – nicht
erst seit den Jahren des Thatcherismus und des Aufkommens der seither,
Schritt für Schritt, in Europa etablierten Hegemonie neoliberaler
Interessenverwalter – , während man stets partikuläre Interessen
privilegierte, die Bevölkerungen allenfalls diskursiv und d.h., auf
dem Wege der erfolgreichen Produktion öffentlicher Meinung „mitgenommen“.
Aber man hat ihnen zugleich die Stimme und das Gewicht, das ihnen als demokratisches
Geburtsrecht zukommt, verweigert.
Die Massen Europas dürfen
zwar ein europäisches Parlament wählen. Aber dieses Parlament
hat die armseligen Rechte einer Versammlung von Vertretern des Dritten
Standes in vordemokratischer Zeit. Es sind die Lobbyisten, die Vertreter
der Wirtschaft, die in Brüssel bei der Kommission sich direkt zu Wort
melden, oder aber ihre nationalen Regierungen zu Interventionen bei der
Kommission veranlassen. Das Europäische Parlament ist zu schwach,
zu machtlos, als das es vorrangiges Ziel der Versuche der Wirtschaft werden
könnte, Einfluß auf die Politik zu nehmen, soweit sie auf EU-Ebene
gestaltet wird.
Die Rolle und das Gewicht des
Europäischen Parlaments erinnert in der Tat an die Unterordnung von
„Parlamenten“ im seinerzeit von den Kritikern in ihren Polemiken
als „feudal“ abgestempelten Absolutismus Frankreichs. Und so ist
es – denkt man etwa an die Diskussion und die Entscheidungen bezüglich
REACH, bei der sich die europäische Chemieindustrie über Vorbehalte
von Chemiebeschäftigten, Konsumenten und Umweltschützern hinwegsetzen
konnte, oder an die Rolle der Kommission, der Zentralbank und des IWF in
der derzeitigen Bankenkrise – unverkennbar, daß Kritiker mit
einem gewissen Recht von einem „Feudalismus“ der (Finanz- und sonstigen,
oft ganz und gar nicht in finanz- oder industriekapitalistische Unternehmungen
auseinanderdividierbaren) Konzerne sprechen, der in den politischen Machtzentren
auf EU-Ebene sich wirksam zur Geltung bringe und hier seinen politischen
Ausdruck finde.
Was bedeutet das für die
Demokratie in Europa?
Seit langem ist anhand vieler
Einzelfälle zu belegen, daß die Europäische Kommission
– im Verein mit einem den Namen angesichts seiner beschnittenen Vollmachten
kaum verdienenden EU-Parlament – die Befugnisse und letztlich die
Souveränität nationaler Parlamente aushebelt. Und dies in der
Regel zum Nutzen der auf EU-Ebene besonders durchsetzungsfähigen Konzerne,
die sowohl als Nutznießer wie Anstifter der Lissabon Agenda zu sehen
sind. Einer Agenda des Sozialabbaus, des Abbaus von Arbeitnehmerechten
und von de facto Errungenschaften der Arbeitnehmer und in Rente gegangenen
früheren Arbeitnehmern wie von jungen, noch der Erwerbstätigkeit
entgegensehenden Menschen in Europa. Letztendlich wird, europäisch
koordiniert, wenn auch angesichts unterschiedlicher Durchsetzungsbedingungen
nicht zeitgleich, versucht, dieselben sozial- und wirtschaftspolitischen
Zielsetzungen – zum Nutzen der Konzerne und zum Schaden der großen
Mehrheit – EU-weit durchzusetzen. Das geht von der sogenannten „Flexibilisierung“
eines angeblich „verkrusteten“ (d.h., den Beschäftigten „zu viele“
soziale Schutzrechte gewährenden) Arbeitsmarkts über die Erhöhung
des Renteneintrittsalters und den Abbau sozialer Sicherungssysteme, die
Reduzierung der Unternehmenssteuer und der Einkommenssteuer der Bezieher
hoher Einkommen bei gleichzeitiger Erhöhung der die Masse der Bevölkerung
besonders belastenden direkten Steuern bis zum „streamlining“ der Hochschulausbildung
zum Schaden der Möglichkeiten kritischer Reflexion in der Universität.
Gleichzeitig besteht man auf EU-Ebene auf einer skandalös zu nennenden
Privatisierung öffentlichen Eigentums, also gesamtgesellschaftlich
belangreicher, von der Öffentlichkeit geschaffener und genutzter Werte,
die zu fragwürdigen Bedingungen veräußert und zu noch fragwürdigeren
Bedingungen zurückgeleast, z.T. aber auch zu Schleuderpreisen an private
Investoren zum privaten Betrieb übereignet werden. Die Beispiele,
von den Berliner Wasserwerken bis zu den derzeit laufenden Privatisierungen
in Portugal, Italien, Griechenland, Spanien usw. sind zahlreich. Der Druck,
der in den letztgenannten Fällen (vor allem in Spanien und Griechenland)
durch die Europäische Kommission (im Verein mit dem IWF und der Europäischen
Zentralbank) auf die nationale Exekutive und das nationale Parlament ausgeübt
wurde, verdient es, als Ausdruck der Arroganz der Macht, wenn nicht, in
seiner Konsequenz, als Enteignung nationaler Souveränität, also
letztendlich als Übergehung des eigentlichen demokratischen Souveräns,
der Bevölkerung der betroffenen Länder, bezeichnet zu werden.
Solange das Europäische Parlament nicht auf der Basis „one (wo)man,
one vote“ von allen Bürgern der EU gewählt und zugleich mit vollen
Rechten eines Parlaments ausgestattet ist, einschließlich des Rechts,
jene europäischen Gesetze zu verabschieden, die heute als europäische
Verordnungen mit (nationale Gesetze aushebelnder Wirkungskraft) von der
Kommission ausgehen, ist jeder verordnende Eingriff der Kommission, einschließlich
der jüngsten Interventionen in Griechenland und Spanien, die alle
Merkmale eines Diktats aufweisen, nicht demokratisch legitimiert. Er ist
Ausdruck „absolutistisch“ wenn nicht „feudaler“ zu nennender und
dabei klientelistisch geprägter Herrschaft einer bürokratischen
Elite, welche sich mit mächtigen Wirtschaftsinteressen verbündet
hat und diese effektiv vertritt. Es ist offensichtlich, daß erstens
Verordnungen eines bürokratischen Apparats, die Gesetzeskraft beanspruchen
und nationale Parlamente zur „Umsetzung“ VERPFLICHTEN (!) – ob sie nun
von einem machtlosen „Europäischen Parlament“ (das bis heute ohne
das Recht besteht, als einzige derart legitimierte Instanz europäische
Gesetze einzubringen, zu debattieren und zu beschließen) abgesegnet
sind oder nicht – in einer demokratischen Gesellschaft nur
als Ausdruck der Entdemokratisierung, der Enteignung des eigentlichen demokratischen
Souveräns (welcher doch immerhin kein anderer als le peuple, il populo,
el pueblo, the people, demos, mithin die Bevölkerung ist) angesehen
werden müssen. Zweitens ist offensichtlich, daß in real- oder
radikaldemokratischer (wenn nicht basisdemokratischer) Abwandlung
des dem Ursprung nach mittelalterlich feudalistischen, heute von der katholischen
Soziallehre hochgehaltenen Prinzips der „Subsidiarität bei gleichzeitiger
Solidarität“ die Dezentralisierung, die Kritik des zentralistisch-bürokratischen
Staatsapparats wie auch die Forderung, daß die Menschen vor Ort –
in der Stadt, in der Region, im Mitgliedsstaat der europäischen Union
– sich artikulieren und ihre vor allem sie betreffenden und somit
auch angehenden Dinge weitgehend autonom entscheiden können sollten,
ein unverzichtbarer Bestandteil jedes ernstzunehmenden demokratischen Programms
ist. Es versteht sich von selbst, daß dies keine Rechtfertigung partikulärer
(lokaler oder regionaler oder nationaler) Egoismen sein darf.
In einer vom Markt beherrschten
gesellschaftlichen Wirklichkeit ist interregionaler Ausgleich zwischen
den Regionen mit starkem ökonomischen Wachstums und den Regionen,
die von einer solchen Entwicklung nicht oder nur kaum erfasst sind, eine
Frage fairen Zusammenlebens. Die Egoismen der Lega Nord Anhänger,
welche Transfer-Leistungen an die Regionen des Mezzogiorno ablehnen ebenso
wie die der industriell vergleichsweise weit entwickelten Regionen im Norden
des alten Jugoslawien, die zum Auseinanderbrechen (oder –gebrochenwerden)
dieses Bundesstaats führten, weil Transfers an den Süden abgelehnt
wurden, sind in einem vereinten Europa unverantwortlich und destruktiv.
Dies zeigt sich neuerdings wieder im Fall der deutschen Position gegenüber
Griechenland und Spanien.
Wenn hier, an einigen signifikanten
Beispielen festgemacht, post-demokratische Tendenzen der EU, auf EU-Ebene
vor allem repräsentiert durch die Kommission, kritisiert werden, so
heißt das nicht, daß derartige Tendenzen in den Nationalstaaten
nicht existieren. Am Beispiel Deutschlands lässt sich eine Entwicklung
aufzeigen, die anderswo in der EU kaum weniger greift, und die auch in
den USA – wo in den letzten beiden Jahrzehnten die executive order des
Präsidenten an Bedeutung gewonnen hat – zu beobachten ist: Die politische
Macht in diesen sich in Richtung auf post-demokratische Verhältnisse
bewegenden Demokratien hat sich verschoben. Die Exekutive hat gegenüber
der Legislative enorm gewonnen; ihre Einschränkungen und Diktate erfährt
diese Exekutive heute vor allem von „der Wirtschaft“. Die Legislative wird
zumindest in Europa immer mehr zu einem Parlament, das man in polemischer
Übertreibung fast „rubber stamp parliament“ nennen könnte: ein
Begriff, der im Kalten Krieg für die Parlamente in den sogenannten
Volksdemokratien verwandt wurde, weil Abgeordnete nur abnickten, was die
politische Führung als Gesetzesvorlage einbrachte. Heute bemängeln
Parlamentarier und ehemalige Parlamentarier in Deutschland, ja sogar ehemalige
Minister (wie Gerhard Baum) den Schwund an freiem Entscheidungsspielraum
und die weitgehend zur Fiktion gewordener Gewissensfreiheit der Abgeordneten.
Gesetzesprojekte werden in Ministerien z.T. von Vertretern der Privatwirtschaft
ausgearbeitet (vorgeblich, weil die „mehr Kompetenz“ haben). Gesetzesvorlagen
kommen praktisch nur aus Ministerien, also von der Exekutive, statt aus
den Reihen der Abgeordneten. Gesetzesvorlagen, die z.T. mehrere hundert
Seiten umfassen, werden Abgeordneten nicht selten 1-2 Tage, manchmal nur
Stunden, bevor sie zur Abstimmung kommen, zur Kenntnisnahme vorgelegt.
Das, was man in den USA den „whip“ oder Einpeitscher nennt, obliegt in
Deutschland den Fraktionsvorsitzenden und darüber hinaus einer kleinen,
informell oder formell als leading figures, Führungspersonal der Partei,
zu bezeichnenden Gruppe von Personen, die sich primär durch Kooptation
erweitert und „erneuert“, auch wenn formale Führungspositionen (Parteiämter)
auf Parteitagen – de facto durch Akklamation – bestätigt werden müssen.
Letzteres meist problemlos, oft ohne Gegenkandidat, was manchen vielleicht
ein wenig an die „realsozialistische“ Realität erinnert, aber durchaus
autoritäre und paternalistische bürgerliche Vorbilder weit älteren
Datums hat, die in den europäischen Gesellschaften und bis zu einem
gewissen Grade auch in Nordamerika nie an Wirkkraft verloren (selbst wenn
in Nordamerika, zumal in den USA, die innerparteiliche Konkurrenz um Ämter
die Machtstellung parteiinterner Eliten und ihre Kontrolle über die
„normalen Abgeordneten“ nicht so unangefochten erscheinen lässt wie
in Deutschland). Die rigorose Brutalität, mit der – in der Frage der
sogenannten Erweiterung des sogenannten Euro-Rettungsschirms – der derzeitige
Kanzleramtsminister der Merkel-Regierung einen prominenten Abweichler in
den Reihen der CDU-Abgeordneten auf Linie zu bringen suchte, verdeutlicht,
warum die übergroße Mehrzahl der Abgeordneten spurt. Auch der
widerspenstige CDU-Abgeordnete, dem der Kanzleramtsminister eröffnete,
er könne seine Gegenargumente gegen die Erweiterung „nicht mehr hören“
und „seine Fresse nicht mehr sehn“, hat begriffen. Er hat ausgesprochen,
daß er gedenkt, sich aus der Politik zurückzuziehen. Nahezu
JEDER Abgeordnete nahezu jeder Partei in Deutschland weiß heute,
daß er nicht mehr als Kandidat aufgestellt wird oder zumindest keinen
aussichtsreichen Listenplatz mehr bekommt, wenn er sich nicht der Parteiführung
und ihrer jeweiligen „Linie“ unterordnet. Parteiinterne Demokratie existiert
zwar formal. In der Praxis – also de facto – existiert sie aber oft nur
als Farce. Dort, wo es darauf ankommt, wo es nach Meinung der Parteiführung
und ihrer (meist wohl von ersteren protegierten), auf Parteikarrieren setzenden
Verbündeten um wichtige Entscheidungen geht, erscheint innerparteiliche
Demokratie immer als ein auf eine eingespielte, disziplinierte Show
reduzierter Vorgang. Das gilt für die CDU und CSU, es gilt für
die SPD, und es gilt (trotz einiger linksliberaler, längst ausmanövrierter
interner Kritiker) für die FDP, wie das Abservieren des rechtslastigen
Möllemann zeigte, der sich der Unterstützung durch die Parteibasis
gewiß war, aber die Bedeutung dieses Faktums über- und die faktische
Macht der Strippenzieher in der Partei unterschätzte. Was die Partei
Bündnis 90 / Die Grünen angeht, die einmal mit basisdemokratischen
Zielen liebäugelte, so hat seinerzeit bereits das westdeutsche Parteiengesetz
einen Riegel vor eine konsequente radikaldemokratische Praxis geschoben.
Die Arbeit im Parlament, die Erfahrung, wie schön es ist, hohe Diäten
zu kassieren und nach zwei Legislaturperioden Pensionsansprüche zu
erwerben, brachten die Zustimmung zur „realpolitischen Wende“, welche das
Führungsteam um Joschka Fischer betrieb. Für die Ablehnung des
rot-grünen Kriegskurses, der Blüten wie die Verbreitung des Märchens
eines „Hufeisenplans“ durch Scharping und Joschka Fischer trieb, revanchierte
sich die Partei (und das heißt, Außenminister Fischer?) im
Fall von Ströbele mit dem Entzug des Listenplatzes. Ströbele,
nach wie vor basisdemokratisch orientiert, zog dennoch, über ein Direktmandat,
wieder in den Bundestag ein. Vielleicht ist es gar nicht übertrieben,
zu sagen: Er ist einer der wenigen Abgeordneten der fünf in Westdeutschland
(bzw. ab 1989/90 in Gesamtdeutschland) nach dem Zweiten Weltkrieg auf Bundesebene
mitregierenden Parteien CDU, CSU, SPD, FDP und GRÜNE, dem man ein
hohes Maß an Unabhängigkeit als Abgeordneter ehrlichen Herzens
abnehmen kann. Ansonsten scheinen Karriere-Erwägungen und verinnerlichte
oder auch ganz bewusst akzeptierter Parteidisziplin vorherrschend bei der
Ausübung des „Wählerauftrags“ als Abgeordneter zu sein. Vermutlich
spielt das auch in der Linken bereits (oder immer noch?) eine gewisse Rolle,
wiewohl hier die lebendig und z.T. recht kontrovers geführte
Debatte die Mehrheit der Journalisten in Deutschland immer wieder von Chaos,
Streit, Uneinigkeit sprechen lässt. Dies im Wissen, daß der
autoritär geprägte Teil der Bevölkerung solche „Uneinigkeit“
(das Fehlen einer „richtigen“ und verbindlichen „Linie“, verordnet von
einer nachgerade paternalistischen Parteiführung“) nicht goutiert.
Streitkultur und lebendige Diskussion sind zwar auch in den um die Formung
der öffentlichen Meinung ringenden, dominanten Medien bekannte Floskeln:
die entsprechende Praxis brachte aber schon den Grünen in ihrer frühen
Phase das Etikett ein, ein chaotischer Haufen zu sein. Demnächst wird
diese Denunziation vielleicht die Piratenpartei treffen. Heute aber geht
es immer wieder der mit viel Häme bedachten Linken so, der man einerseits
das Fehlen innerparteilicher Demokratie in der verblichenen SED vorhält
und andererseits das Zuviel an innerparteilicher Demokratie, das – trotz
allem offensichtlichen innerparteilichen Strippenziehen – einer ganzen
Reihe von Meinungen und Tendenzen einen erstaunlichen, in den großen
Parteien so nicht nachweisbaren Freiraum belässt. Aktuell ist bemerkenswert,
daß – nach den großen, auch die Forderung nach mehr direkter
Demokratie ins Spiel bringenden Demonstrationen in Stuttgart – inzwischen
ein Sender wie der Westdeutsche Rundfunk (der in den 70er Jahren von der
CDU/CSU noch als Rotfunk diffamiert wurde, ungeachtet der Breite des Spektrums
der Positionen, die damals zu Wort kamen) fast schon tendenziös darüber
debattieren lässt, ob die Redefreiheit im Internet nicht eingeschränkt
gehört, während man in einer zweiten, kurz darauf folgenden Sendung
die dazu passende, weitere Frage „Haben wir zuviel Demokratie?“ aufwirft.
Offenbar wird, nachdem hier Stefane Hessel zu Wort kam, von der zumindest
CDU-nahen Intendantin Monika Piel kräftig gegengesteuert. Und dies
in einem Moment, in dem den etablierten Parteien zum ersten Mal seit langem
radikaldemokratischer Gegenwind angesichts der über Banken und Politik
und vieles mehr Empörten ins Gesicht weht.
Bleibt die Frage, ob die neuen
Ansätze zu einer Revitalisierung der Demokratie und zur Abwehr post-demokratischer
Tendenzen im Moment lediglich von letztlich radikaldemokratischen, das
heißt, die Demokratie ernst nehmenden, dezentralen Massenbewegungen
kommen. Oder ob die eher hierarchisch (top-down) strukturierten Gewerkschaften
– wie z.T. in den USA – die Zeichen der Zeit erkennen, was bedeuten könnte,
daß sie die Bewegungen der Unteren nicht im Stich lassen, daß
sie diese unterstützen. Und vielleicht ergreift ein solches Begehren
ja sogar die Basis in den großen und kleinen Parteien: jene Parteimitglieder,
etwa bei der SPD und den Grünen, die endlich dafür SORGEN müssten,
daß vermeintliche Partei-„Eliten“, die wie die SPD-Führung und
die Führung der Grünen unter Schröder den Sozialabbau und
die Umsetzung der neoliberalen Lissabon Agenda betrieben, abgelöst
werden und die eigene Partei intern demokratisiert wird. Auch bei den Linken
ist da noch einiges zu verbessern. Ein stärkeres Vertreten der Positionen
der Basis – etwa in Berlin und vor allem in Brandenburg, wo große
Teile der Bevölkerung z.B. gegen die CO-Speicherung sind – ist gefragt;
nicht „pragmatisches“ Taktieren und Festhalten an Koalitionen um jeden
Preis. Etwas, das ja auch den Grünen anzuraten ist, gerade auch angesichts
ihrer nicht sehr lang zurückliegenden Koalition mit der CDU in Hamburg,
bei der sie – um der Teilhabe an der vermeintlichen Macht und vielleicht
auch um der damit verbundenen Einkommen willen – auf das Geltendmachen
essentieller Forderungen der Basis (AKWs und Elbvertiefung betreffend)
verzichteten. Hier zeigt sich, was schon die Praxis der sozialdemokratischen
Fraktion im Reichstag des 1871 gegründeten Kaiserreichs zeigte: die
Routine der parlamentarischen Arbeit und vielleicht auch die materielle
Lage der Parlamentarier macht die gewählten Abgeordneten leicht zur
Speerspitze einer Politik fauler Kompromisse; dies situierte im Kaiserreich
die Mehrheit der sozialdemokratischen Fraktion eindeutig rechts von der
Parteibasis. Und wie war es kürzlich, bei den Linken in Berlin,
die aus Rücksicht auf den Koalitionspartner kein Interesse an allzu
gründlich betriebener Aufklärung der Berliner Skandale der Vergangenheit
zeigten? Und was trieb die grünen Abgeordneten an, die im Saarland
für das Bündnis mit der CDU votierten? Ist nicht der übergroße
Teil jener Wähler in der deutschen Bevölkerung, die in
den letzten Jahren entweder SPD wählten oder Grüne oder Linke,
für einen Wandel, für eine Abkehr vom neoliberalen Kurs?
Zu solchen Erwartungen der eigenen Wähler passt das kleinliche Hickhack
zwischen diesen Parteien nicht gut. Dazu passt nicht, daß die grüne
Spitzenkandidatin in Berlin, Künast, mit ihrer Parole „Rot-rot ablösen“
vor allem Wowereit attackierte statt die CDU; dazu passt nicht, daß
Trittin für die Zeit nach der nächsten Bundestagswahl ein schwarz-grünes
Bündnis nicht ausschließen will. Man macht eine von der Parteienkonkurrenz
und vom Willen zur Teilhabe an der Macht diktierte Politik, und ignoriert
großzügig, was die eigenen Wähler mehrheitlich wünschen.
Auch das Abbügeln der Grünen durch Wowereit nach der Berliner
Wahl gehört hier hin, als kleinliche, vom Partei-Egoismus, nämlich
Egoismus der Führungsequipen diktierte Politik. In NRW brüskieren
SPD und Grüne auf unverantwortliche Weise die Linke, auf deren Zustimmung,
etwa zum Haushalt, sie angewiesen sind. Will man zurück in die Vergangenheit?
Schon einmal zog die SPD eine Große Koalition einer - übrigens
von der Mehrheit der Wähler favorisierten! – Allianz aus SPD,
Grünen und Linken vor. Klar ist längst: für Schröder,
Steinbrück, Steinmeyer und Co. ging es um ein Festhalten an der Lissaboner
Agenda, um die Verhinderung jenes Richtungswechsels, den man den eigenen
Wählern im Wahlkampf unehrlicherweise versprochen hatte. Aber wie
sagte dann einer aus dem SPD-Führungsteam? „Sie dürfen mich nicht
auf das festnageln, was ich im Wahlkampf gesagt habe.“ Und dann wundert
sich die Schar der Journalisten und ein Teil der politischen Klasse, daß
die Bevölkerung Politikern nicht mehr vertraut.
Aber seien wir mindestens vorsichtig
von der Möglichkeit überzeugt, daß das Anwachsen von Basisbewegungen,
ja von Massenbewegungen, die mehr Demokratie, eine Abkehr vom neoliberalen
Kurs und ein Bedenken der Effekte umweltzerstörerischer Praktiken
der „Wirtschaft“ verlangen, in den sich einst als „links“ und zum Teil
als „basisnah“ verstehenden Parteien ein Umdenken, wenn nicht eine „Revolte“
auslösen kann. Seien wir hoffnungsvoll, daß auch die Piratenpartei
ein bisschen beitragen kann zum notwendigen demokratischen Aufbruch.
Was die CDU und CSU angeht, so
kann man in waghalsigem Optimismus nur alle Hoffnung setzen in jene engagierten
Katholiken, die Impulse der Bewegung „Kirche von unten“, oder von Pax Christi,
oder der Befreiungstheologie aufnehmen und weitergeben. Manche womöglich
geleitet von dem verständlichen Wunsch, daß so auch eines Tages
in diesen beiden „Schwester“-Parteien ein frischer, radikaldemokratischer
Wind wehen kann. Es wäre eine gute Entwicklung, wenn von basisnahen,
den partikulären Interessen der „Wirtschaft“ nicht unumstößlich
verpflichteten Teilen dieser beiden sich nach wie vor christlich nennenden
Parteien die realen Nöte und Bedürfnisse der Mehrheit der Bevölkerung
zur Kenntnis genommen würden. Einer Mehrheit übrigens, die in
zunehmendem Maße im Begriff ist, ihre eigene Stimme zu finden.
Eben das, dieses Lernen der Vielen,
sich zu Gehör zu bringen, macht ja Demokratie im eigentlichen Sinne
aus. Und es reduziert die Macht politischer Eliten, und den Monopolismus
(oder Oligopolismus) von gewählten Repräsentanten und eingesetzten
Bürokratien. Vielleicht, ja vielleicht, werden sie so wieder zu dem,
was sie dem demokratischen Ideal nach sein sollten: zu Dienern des Volkes,
statt seinen Herren und seinen Vormündern.
Check...:http://www.democracynow.org/2011/2/17/democracy_uprising_in_the_usa_noam
Check: http://www.democracynow.org/2011/2/17/democracy_uprising_in_the_usa_noam
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